«Wir waren fest entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen»
Dass der heute 15 Jahre alte Mattia Maggio von einer Bewegungsbeeinträchtigung betroffen ist, zeigte sich erst, als der Junge rund 15 Monate alt war. Für seine Eltern Michela und Marco Maggio brach mit der Diagnose eine Welt zusammen. Ihre Lebensfreude hat sich die Familie aber trotzdem nicht nehmen lassen.
Die Familie Maggio lebt in Cresciano, einem kleinen Tessiner Dorf, das zur Gemeinde Riviera gehört und sich nur einen Steinwurf von Bellinzona entfernt befindet. Hinten im Haus ist Baulärm zu hören – Marco Maggio ist gerade daran, die Garage so umzubauen, dass Mattia sie mit seinem Elektrorollstuhl bequem befahren kann.
Es ist ziemlich heiss an diesem Sommertag, Mattia befindet sich deshalb gemeinsam mit seiner Mama und seinem zweieinhalbjährigen Bruder Maicol im kühlen Haus. Golden Retriever Max döst zufrieden in einer Ecke, während Maicol selbstvergessen mit seinen Spielsachen spielt.
Mattia hat heute schlechte Laune, und das ist ihm nicht zu verdenken. Kürzlich wurde der Junge an der Hüfte operiert, und seither plagen ihn starke Schmerzen, die einfach nicht weggehen wollen. Für einen lebenslustigen und sehr aktiven 15-jährigen ist es schwer zu akzeptieren, dass er nun durch eine Operation derart ausgebremst wird. Seine Mama Michela Maggio beobachtet ihren Sohn mit sorgenvoller Miene. «Als Mutter ist es schwierig, wenn man sein Kind leiden sieht und ihm nicht helfen kann. Ich würde ihm seine Schmerzen so gerne abnehmen», sagt sie.
Mattia versucht, sich von den Schmerzen abzulenken. Er fährt mit seinem Elektrorollstuhl an den Küchentisch und beginnt, auf einem Tablet eine Comicfigur zu zeichnen. Mit schnellen, klaren Strichen erweckt er auf seinem Bildschirm blitzschnell ein farbiges Männchen zum Leben. Während er gedankenverloren zeichnet, hellt sich seine Miene auf und er entspannt sich sichtlich. Michela Maggio schaut ihrem Sohn über die Schultern und lächelt. «Zeichnen war schon immer Mattias grosse Leidenschaft», erzählt sie und streichelt ihm liebevoll über den Arm.
Zuerst schien alles in bester Ordnung
Als Mattia vor 15 Jahren geboren wurde, deutete nichts auf eine Bewegungsbeeinträchtigung hin. Der kleine Junge entwickelte sich scheinbar normal und seine stolzen Eltern freuten sich über jeden seiner Fortschritte. Doch dann veränderte sich plötzlich alles. Michela Maggio erinnert sich: «Mattia war damals 15 Monate alt und ein lebenslustiges Kind, das kaum stillsitzen konnte. Genau wie Maicol das heute auch ist.» Sie schaut zu ihrem Jüngsten hinüber, der wie ein kleiner Wirbelwind durchs Wohnzimmer fegt, und schweigt einen Moment gedankenverloren, bevor sie weitererzählt: «Eines Morgens konnte Mattia plötzlich nicht mehr alleine stehen. Seine Beine waren wie gelähmt und hingen beim Wickeln nur noch kraftlos vom Wickeltisch. Schmerzen schien er zwar keine zu haben, doch
wir waren sehr beunruhigt.»
Michela und Marco Maggio versuchten zwar, sich nicht allzuviele Sorgen zu machen und redeten sich ein, dass das wohl nur ein kleiner, ganz normaler Rückschritt in der sonst so gesunden Entwicklung ihres kleinen Sohnes sein würde. Trotzdem suchten sie einen Kinderarzt auf. Auch dieser ging zuerst nicht von einer gravierenden Beeinträchtigung aus und beruhigte die Eltern. Michela Maggio schüttelt den Kopf: «Wir alle dachten, dass Mattia einfach noch ein bisschen mehr Zeit braucht für seine Entwicklung.»
Lange Wochen der Ungewissheit
Allen Hoffnungen zum Trotz verbesserte sich Mattias Zustand jedoch nicht, sondern er verschlimmerte sich mit der Zeit sogar eher noch. Deshalb entschieden sich seine Eltern dazu, ihn im Spital gründlich untersuchen zu lassen. Dort wurde dann relativ schnell festgestellt, dass Mattia von einer Beeinträchtigung betroffen ist. Auf eine genaue Diagnose mussten die Eltern jedoch ziemlich lange warten, weil es ein paar Wochen dauerte, bis die Blutproben ausgewertet waren. Michela Maggios Miene verdüstert sich: «Das waren wohl die längsten Wochen in meinem ganzen Leben.» Sie schluckt schwer und kämpft mit den Tränen.
Als schliesslich war klar, dass Mattia von einer Spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ 2 betroffen ist, zog das den Eltern regelrecht den Boden unter den Füssen weg. Bei der SMA handelt es sich um eine genetisch bedingte Erkrankung, die zu einer zunehmenden Muskelschwäche des oder der Betroffenen führt. «Ich kann mich noch sehr gut an den Anruf des behandelnden Arztes erinnern», sagt Michela Maggio mit belegter Stimme, «ich verstand nicht wirklich viel von den medizinischen Fachbegriffen und hatte zudem grosse Mühe, die Tatsache zu akzeptieren, dass Mattia beeinträchtigt ist. Schliesslich fragte ich, ob mein Sohn jemals laufen lernen würde. Erst als der Arzt dies ohne zu zögern verneinte, wurde mir die traurige Realität mit aller Wucht bewusst.»
Die Maggios brauchte eine Weile, um diesen Schicksalsschlag zu verkraften und mit der neuen Situation umgehen zu lernen. Trotzdem erwachte bald auch ihr Kampfeswille: «Wir waren fest entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen und Mattia ein gutes und vor allem auch seinen Bedürfnissen entsprechendes Leben zu bieten. Er sollte sich frei entfalten können und nicht dauernd daran erinnert werden, was er alles aufgrund seiner Beinträchtigung nicht selber machen kann.»
Spontane Treffen mit Freunden sind leider schwierig
Heute ist Mattia ein selbstbewusster Teenager, der weiss was er will. Seine Beeinträchtigung betrifft bis heute in erster Linie seinen Rumpf und seine Beine, seine Arme kann er zum Glück relativ gut bewegen. Besonders zu schaffen macht ihm, dass er sich nicht so frei bewegen kann wie andere Jugendliche in seinem Alter. Spontane Treffen mit Freunden sind schwierig, weil er immer darauf angewiesen ist, dass ihn jemand hinfährt und später wieder abholt. Mattia bewegt sich deshalb viel online. Dort kann er nach Herzenslust mit seinen Kumpels gamen oder chatten, seine Beeinträchtigung rückt dabei für einen Moment in den Hintergrund.
Bald beginnt der Junge eine Lehre als Polygraf bei einer Agentur in Giubiasco. Dieser Beruf passt besonders gut zu Mattia, weil er so sein kreatives Talent voll ausleben kann. Dass ihr Sohn einen Beruf erlernen kann, der ihm wirklich Freude macht, ist für Michela und Marco ein grosses Geschenk – zumal es gar nicht so einfach war, eine passende Lehrstelle zu finden. «Wir mussten lange suchen und verschiedene Rückschläge erdulden, bis Mattia endlich einen Lehrvertrag in der Tasche hatte», erzählt seine Mama, «für einen Jugendlichen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sind die Hürden vielerorts höher. Nur schon, weil viele Betriebe nicht barrierefrei ausgebaut sind oder sich scheuen, einen Lehrling mit Handicap einzustellen. Umso mehr freut es uns für Mattia, dass er nun eine so gute Lösung gefunden hat.»
Viel Leidenschaft fürs Powerchair Hockey
Neben dem Zeichnen verfolgt Mattia noch eine zweite Leidenschaft: Seit ein paar Jahren spielt er Powerchair Hockey und legt dabei ein grosses Talent an den Tag. Er spielt bei den Cyber Falcons Ticino in Lugano und wenn er von seiner Passion für diesen Sport erzählt, strahlt er dabei übers ganze Gesicht. In der kurzen Zeit, die er nun schon Power Chair spielt, hat er mit seinem Team bereits an zwei Schweizer Meisterschaften teilgenommen und bald wird er erstmals als Reservespieler für das Schweizer Nationalteam nominiert. Darüber freut er sich sehr, und bis dahin werden hoffentlich auch die Schmerzen von der Hüftoperation abgeklungen sein.
Wenn Mattia einen Match oder ein Turnier spielt, sind seine Eltern wenn immer möglich dabei und feuern ihren Ältesten an. Michela Maggio: «Die Spiele finden zwar meistens nicht im Tessin statt und deshalb müssen wir teils weite Anfahrtswege in Kauf nehmen. Uns ist es aber sehr wichtig, dass Mattia unsere volle Unterstützung spürt.» Der kleine Maicol wird dann meistens bei Verwandten oder Freunden untergebracht. «Ihm wäre es an den Turnieren eh zu langweilig und Mattia soll uns auch einmal ganz für sich alleine haben», findet Michela Maggio, ihr Mann nickt bekräftigend.
Den Spagat zwischen den Bedürfnissen eines quirligen Kleinkindes und denen eines eher ruhigen Teenager im Rollstuhl zu finden ist nicht immer einfach – davon können Marco und Michela Maggio ein Liedchen singen. Die beiden nehmen es aber mit Humor. «Manchmal muss man sich halt etwas einfallen lassen», sagen sie und lachen, «bis jetzt hat sich immer irgendwie eine Lösung ergeben und eines ist jedenfalls sicher: unser Alltag wird garantiert nie langweilig!»
Hilfe für die Familie Maggio
Die Maggios sind schon seit vielen Jahren bei der Stiftung Cerebral angemeldet und wurden von uns auch schon mehrfach unterstützt. So beziehen sie zum Beispiel regelmässig Pflegeartikel und erhielten finanzielle Hilfe für den behindertengerechten Ausbau ihres Zuhauses und den Kauf eines neuen Autos, in dem Mattia bequem mitfahren kann. Auch unser Angebot für vergünstigte Kleider für Mattia nahmen sie gerne in Anspruch.
Die Familie Maggio ist sehr dankbar für die unkomplizierte Unterstützung und besonders auch für die direkte Beratung am Telefon, um offene Fragen zu klären.
Im Frühling besuchten die Maggios mit Mattia erstmals die alle zwei Jahre stattfindende Informationsveranstaltung der Stiftung Cerebral in Bern. Für sie war es eine tolle Gelegenheit, um die verschiedenen Angebote und Leistungen etwas näher kennenzulernen.